60 Jahre Amtsblatt »Bürger und Gemeinde« – Eine Retrospektive in mehreren Teilen

 

Teil 1
 

Die Zeit vergeht nicht nur, sie verändert auch. Dies können wir besonders in unserer schnelllebigen Gegenwart beobachten, die von einem immer weiter wachsenden Daten- und Informationsaustausch geprägt ist. Wir bemerken es nicht, aber die Welt befindet sich in einem Umbruch. Viele ältere und alte Menschen können nicht mehr mit den modernen Formen der Telekommunikation und den sich immer rascher verändernden Medien mithalten. Darüber hinaus stellt sich die Frage: Wie können die Menschen, ob jung oder alt, besser und seriös informiert werden? Wie kann man sie noch mehr z.B. in kommunalpolitische Entscheidungsprozesse einbinden? Wie kann man ihnen Entscheidungen vermitteln und sie daran teilhaben lassen?

Mit diesen und ähnlichen Fragen haben sich Gemeinderat und Bürgermeister bereits im Jahr 1953 befasst. Das Ergebnis dieser Überlegungen war seinerzeit die Herausgabe des Amtsblatts »Bürger und Gemeinde«.

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So sah es aus, das erste Amtsblatt »Bürger und Gemeinde«. Es erschien am 6. März 1953 mit Geleitworten von Bürgermeister Gustav Bosch und Landrat Dr. Anton Huber

Am 6. März 1953 erschien die erste Ausgabe. Seitdem werden Beschlüsse des Gemeinderats und seiner Ausschüsse sowie weitere wichtige Informationen aus Verwaltung, den Kirchengemeinden, Schulen, Kindergärten, Vereinen und Verbänden in dieser Form in Oberkochen bekanntgemacht.

Das Jahr 1953 war, wie heute, eine Zeit des Umbruchs und des Wandels. Der wenige Jahre zuvor beendete Zweite Weltkrieg und seine Folgen hatten Vieles verändert, auch in Oberkochen. Aus dem kleinen beschaulichen, ehemals landwirtschaftlich geprägten Dorf wurde dank der wirtschaftlichen Entwicklung und des enormen Zuzugs von Vertriebenen, Flüchtlingen und Menschen, die nach dem Krieg nach Arbeit suchten, rasch eine prosperierende Gemeinde, die 1968 sogar zur Stadt erhoben wurde.

Die Einwohnerzahl Oberkochens übersprang im Herbst 1953 die 5000er-Marke. Sie hatte sich damit seit Kriegsende mehr als verdoppelt (1939: 2002 Einwohner). Vor allem aus Thüringen, aber auch aus anderen Teilen Deutschlands und des ehemaligen Deutschen Reichs zogen viele Menschen hierher, um z.B. Arbeit in den großen Unternehmen J. Adolf Bäuerle, Gebrüder I.eitz, WIGO und Zeiß-Opton, der heutigen Carl Zeiss AG, zu finden. Bis zum Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 war Oberkochen die zuzugsstärkste Gemeinde Baden-Württembergs.

Wohnungen waren 1953 übrigens äußerst knapp und wurden sogar staatlich zwangsbewirtschaftet. In einer kleinen Randnotiz in der zweiten Ausgabe des Amtsblatts »Bürger und Gemeinde« vom 13. März 1953 wurde z. B. berichtet, dass in der Vormerkliste der Wohnungssuchenden 242 Familien mit insgesamt 591 Personen eingetragen seien. 71 Familien bzw. 280 Personen wohnten danach in sog. Elendsquartieren.

In der dritten Ausgabe des Amtsblatts vom 20. März 1953 wurde unter der Überschrift »Sowjetzonen-Flüchtlinge« weiter berichtet, dass die Katastrophe der Massenflucht aus der Ostzone bis nach Oberkochen schwappe. Deshalb sei mit sog. Unterbringungsauflagen der Regierung an die Gemeinden zu rechnen. Es wurde daher darauf gedrängt, verfügbaren Wohnraum freiwillig zu melden, um behördlichen Sanktionen und Zwangsmaßnahmen, z.B. einer Requirierung, also einer Beschlagnahmung, zuvorzukommen.

Nur wenige Monate später, nämlich am 17. Juni 1953, fand in der damaligen DDR, der früheren sowjetischen Besatzungszone, die umgangssprachlich als »Ostzone« bezeichnet wurde, ein Volksaufstand statt, der mit Hilfe sowjetischer Truppen niedergeschlagen wurde. Bis zum Bau der Berliner Mauer flüchteten noch hunderttausende Menschen in den Westen, einige davon auch nach Oberkochen.

In dieser Zeit der nachkriegsbedingten »Völkerwanderung«, des rasanten Bevölkerungswachstums, des gesellschaftlichen Umbruchs und des beginnenden Wirtschaftswunders stellte sich der Gemeinderat, besonders aber der damalige Bürgermeister, Gustav Bosch, die Frage, wie eine neue Gemeinschaft geformt und die vielen Bürgerinnen und Bürger – alte und neue – in die Kommunalpolitik und das soziale Gefüge einbezogen werden können. Die Frage, wie Informationen am besten in die Bürgerschaft »transportiert« werden können, stand dabei an oberster Stelle. Diese Überlegungen sind übrigens heute aktueller denn je und werden neuerdings, staatlich verordnet, unter dem Stichwort »Bürgerbeteiligung« diskutiert. Wie das Beispiel Oberkochen aber zeigt, ist dieses Thema für die Kommunen nicht wirklich neu.

Bis etwa zur Mitte der 1950er Jahre wurden Informationen der Gemeinde entweder durch Anschlag am alten Rathaus in der Ortsmitte (heute: Oberkochener Bank) oder durch »Ausschellen« bekanntgegeben. Letzteres erfolgte durch den Amtsboten, den »Büttel«, der zu verschiedenen Tageszeiten, meist jedoch vormittags zwischen 11 Uhr und 12 Uhr in der Ortsmitte mit einer großen Glocke, also einer »Schelle«, läutete und die neuesten Ortsnachrichten verlas. Die alte »Büttelschelle« ist übrigens im Besitz des Heimatvereins und im Heimatmuseum ausgestellt.

Josef Wingert war viele Jahre Amtsbote. Er war der letzte »Büttel«, hier in blauer Uniform, der Ortsnachrichten noch »ausschellte«. Das Foto wurde von Berta Hägele und Josef Wingert, beide Kinder des verstorbenen Amtsboten Josef Wingert, zur Verfügung gestellt.

Den älteren Lesern unseres Amtsblatts dürfte noch der letzte Büttel, Josef Wingert, in Erinnerung sein. Ausgestattet mit blauer Uniform und Schelle informierte er die Bürgerschaft über das Allerneueste und -wichtigste im Ort. Nicht jeder hatte aber die Möglichkeit, sich auf diese Weise Informationen zu beschaffen. Vor allem die Werktätigen waren hiervon ausgeschlossen, weil sie meist keine Zeit oder Gelegenheit hatten, sich während der Arbeitszeiten in der Ortsmitte zu versammeln. In seinem Geleitwort zur ersten Amtsblattausgabe schrieb Bürgermeister Gustav Bosch denn auch: »Die hergebrachten Formen des Ausschellens und des Anschlags befriedigen nicht mehr. Nur was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.«

Die alte Büttelschelle ist im Heimatmuseum ausgestellt

In diesem Jahr (2013) feiert unser Amtsblatt »Bürger und Gemeinde« sein 60-jähriges Bestehen. Grund und Anlass genug, um hin und wieder einen Blick in die Vergangenheit und die letzten 60 Jahre Amtsblatt- und Stadtgeschichte zu werfen. Die Amtsblattredaktion möchte im Rahmen einer mehrteiligen Retrospektive Interessantes, Originelles und Kurioses aus den vergangenen sechs Jahrzehnten in unregelmäßigen Zeitabständen scheinwerferartig beleuchten und wieder in Erinnerung bringen.

»Bürger und Gemeinde« hat sich bis heute nicht nur zu einem Sprachrohr des Gemeinderats, der Verwaltung und des Bürgermeisters entwickelt, was es übrigens als amtliches Mitteilungsblatt auch sein muss, sondern es hat sich darüber hinaus zu einer funktionierenden Informations- und Kommunikationsplattform für alle bedeutenden Institutionen und Organisationen in unserer Stadt und letztlich für die gesamte Bürgerschaft entwickelt. Für viele ist »Bürger und Gemeinde« schlichtweg Kult, und nur diejenigen haben es nicht abonniert, die es entweder nicht kennen oder am falschen Fleck sparen. Manche lesen es auch bei den Eltern oder den Großeltern. Letztlich stellt sich die Frage, ob man wegen eines 30 € günstigen Jahresabonnements tatsächlich Informationsdefizite in Kauf nehmen will, und sei es nur, weil man z.B. den Termin der nächsten Altpapiersammlung verpasst, über kommende Straßensperrungen oder -sanierungen nicht rechtzeitig Bescheid weiß oder irgendwelche Feste und damit Möglichkeiten der Begegnung versäumt. Schließlich geben wir so viel Geld für so viel Unnötiges aus, da wären ein paar Euros für »Bürger und Gemeinde« manchmal sinnvoller angelegt. Und das Schöne ist: man muss sich die Informationen nicht irgendwo holen, sondern sie werden direkt ins Haus gebracht.

Auch nach 60 Jahren hat »Bürger und Gemeinde« nichts von seiner Funktionalität und Qualität eingebüßt. Es ist immer noch ein zeitgemäßes Medium, das seine Funktion, nämlich die Bürgerinnen und Bürger zu informieren, sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und an kommunalpolitischen Prozessen und Entscheidungen teilhaben zu lassen, hundertprozentig erfüllt. Wichtiger noch: es ist ein verbindendes Element für unsere Gemeinschaft in Oberkochen. Das gilt selbst im digitalen Zeitalter von Facebook und Twitter, denn bestimmte Informationen lassen sich nun mal nicht immer computer- oder smartphonegerecht bis hin zur Banalität und Unkenntlichkeit reduzieren, oder besser: verstümmeln. Auch heutzutage muss man immer noch lesen, um gut informiert zu sein. Und das Medium »Papier« ist moderner als man denkt. Das merkt man z.B. dann, wenn die auf einem Tablet-Computer oder Smartphone gespeicherten persönlichen Daten, Kontakte, Adressen oder Termine durch einen Crash, elektronischen Defekt oder schlicht durch Unachtsamkeit des Nutzers für immer verloren gehen.

Und obwohl Zeitung lesen vor allem bei jungen Leuten »out« ist und Nachrichten und Informationen beinahe nur noch übers Internet bezogen werden, wird man irgendwann erkennen, dass man im Internet, besonders aber in virtuellen sozialen Netzwerken oftmals unbemerkt am Nasenring durch eine manipulierte und manipulierende, größtenteils anonyme, höchst oberflächliche, mittlerweile als investigativ bekannte, total überreizte und überzogene, meist sinnentleerte und damit öde Kommunikations- und Informationswelt gezogen wird, die eine soziale Gemeinschaft in Form einer »Community« nur vorgaukelt. Und auch wenn das Erscheinungsbild von »Bürger und Gemeinde« auf den einen oder andern etwas antiquiert wirkt, ein offizielles Mitteilungsblatt hat nun mal nicht den Anspruch einer Bild-Zeitung oder eines Boulevardblatts. Wichtiger sind Inhalt und Seriosität. Dass das Amtsblatt »Bürger und Gemeinde« dennoch nicht als muffig und spießig wahrgenommen wird, beweist seine ungebrochene Beliebtheit in der Oberkochener Bürgerschaft und darüber hinaus.

In der vierten Ausgabe von »Bürger und Gemeinde« am 27. März 1953 schrieb der damalige CDU-Vorsitzende und spätere Gemeinderat Dr. Hans Schmid, dass es nicht nur darauf ankomme, die Bürgerschaft umfassend zu informieren, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen zu schaffen und zu festigen. Diese Aufgabe sah er vor dem Hintergrund des enormen Zuzugs und des rasanten Bevölkerungswachstums in Oberkochen in den 1950er Jahren, wo es darauf ankomme, Begegnungen zu ermöglichen, sich kennenzulernen, Toleranz zu üben; letztendlich also, um die vielen Menschen in die örtliche Gemeinschaft zu integrieren.

Dies gilt nach 60 Jahren noch genauso, wenngleich die Zeiten des rasanten Bevölkerungswachstums vorbei sind. Oberkochen ist dennoch eine atypische Kleinstadt mit einer großen Fluktuation geblieben; viele Menschen ziehen hier weg, aber auch viele zu. Eine homogene Bürgerschaft gibt es nur bedingt, weil sie sich ständig verändert. Umso wichtiger ist ein gemeinsames Band, das alle gleichermaßen verbindet und sie am sozialen Leben teilhaben lässt. Diese Aufgabe erfüllt »Bürger und Gemeinde« noch immer hervorragend, und digitale Medien und Plattformen können es lediglich ergänzen, aber nicht ersetzen. In diesem Sinne wünsche ich »unserem« Amtsblatt »Bürger und Gemeinde«, dass es ihm auch in Zukunft gelingen wird, die Menschen zusammenzubringen, sie transparent und seriös zu informieren und als Bindeglied zwischen Bürgerschaft und politischen Entscheidungsträgern zu wirken.

Peter Traub
(Bürgermeister)


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